2. Etappe, Donnerstag, 10.10.2013
Die Wettervorhersage verbreitet nicht das, was man Optimismus nennen könnte, wenn man Pessimist wäre. Aber es kann ja noch werden, und so treffen wir mit dem Regionalzug zur festgelegten Zeit in Marquardt ein. Der leichte Nieselregen, der uns empfängt, weiß nicht, ob er nur feuchte Luft ist oder einen doch zum Kapuzeaufsetzen oder gar Schirmaufspannen nötigen will. Wir erkennen den blauen Punkt wieder und gehen durch den Ort nach Norden, ohne schrillen Schrei. Es ist ruhig hier, kaum ein Auto, kaum Menschen – aber bei Regen tanzt man ja auch nicht auf der Straße. Als wir hinter dem Ort die Bundesstraße 273 unterqueren sehen wir Arbeiter der Straßenbehörde ihrer verantwortungsvollen Tätigkeit nachgehen. Sie versetzen ein Verkehrsschild, das am grünen Tisch eine unnütze Lage zugeschrieben bekam, um zwei Meter nach hinten, damit es seinen Sinn erfüllt. Der Wissende beginnt mit den Arbeitern eine Diskussion über die Verankerung des Schildes, dessen Rohr nämlich überraschenderweise nicht in Beton eingegossen, sondern einfach in den Sand gebohrt wird. „Dit hält“, sagen die Arbeiter und wir müssen es ihnen glauben. Wenn wir das nächste Mal an dieser Stelle vorbeikommen, werden wir kontrollieren. Wir überqueren die Straße und halten uns am nächsten Weg, einer alten Kastanienallee, rechts und gehen bis zu den Bahngeleisen. An diesen entlang wieder nach Norden, am ehemaligen Bahnhof Satzkorn („Satzkorn – Priort – Marquardt“: Meine Lieblingsnamen, als ich vor Jahrzehnten als Student bei der Ausbildung zum Fahrkartenverkäufer bei der Reichsbahn im damaligen West-Berlin die Spinne auswendig lernen musste) vorbei, der noch ordentlich erhalten ist, obwohl er leer steht. Wer es gerne etwas gruselig mag, könnte sich bei der Immobilientochter der Bahn um dieses Schnäppchen bewerben. Es wird wahrscheinlich wenige Mitbieter geben.
Wir halten uns links um die Autobahn A10 zu überqueren und nehmen den Stau der Lastwagen mit Schadenfreude zur Kenntnis, wie jeder, der nicht selber im Stau steht. Der Weg ist nur noch ein Pfad im Gras, weshalb es nicht nur von oben, sondern leider auch an den Füßen ungemütlich nass wird. Die folgende Wegbeschreibung im Buch, in dem von Pappeln, Obstplantagen, linken Bögen und vielem mehr die Rede ist, können wir nicht nachvollziehen, stehen aber, genau wie beschrieben, „plötzlich und überraschend auf dem Damm des Havelkanals, der vorher nicht zu sehen war.“ Bei schönem oder mindestens hinreichendem Wetter wären die folgenden 1,5 km direkt am Kanal entlang sicher ein Genuss, so aber tröpfeln wir wie der Regen vorwärts, von schlechter Stimmung kann man aber natürlich nicht reden. Bei Buchow-Karpzow überqueren wir den Kanal und marschieren auf der linken Seite weiter. Leider ist der Weg immer weniger als Weg, geschweige denn als gepflegter Wanderweg zu erkennen. Das Gras ist kniehoch, und da es nass ist, sind auch wir nass. Die Natur holt sich auf bewundernswerte Weise zurück, was ihr der Mensch, und sei es auch in bester Absicht, genommen hat. Hier kann man exemplarisch studieren, wie es auf der Erde drei Jahre, nachdem der Mensch einstmals von ihr verschwunden sein wird, aussehen könnte.
Da der Weg nicht mehr zu erkennen ist, biegen wir, wie sich alsbald herausstellen soll, falsch ab, und machen doch alles richtig: Ohne zu frühes Abbiegen wären wir nämlich in Wustermark, und nicht, wie uns der Wissende anhand der ihm bekannten Kirche erklärt, in Hoppenrade aufgeschlagen. Und wenn wir nicht in Hoppenrade gewesen wären, hätten wir auch nie die „Feldküche Hoppenrade“ von Detlef Baderke kennen gelernt.
Unter Feldküche versteht der Nicht-Wehrdienst-geleistet-Habende eine Gulaschkanone, die eventuell von einem Zelt gegen den Regen geschützt wird. Die Feldküche Hoppenrade ist eine Gulaschkanone, die durch ein Zelt gegen den Regen geschützt wird! Aber es gibt keinen Gulasch, sondern Erbsensuppe und zwar mit Knacker, mit Wiener oder mit Bockwurst. Oder ohne alles, für Vegetarier. Wir betreten den Raum hinter dem Zelt und auch hier sieht alles so aus, als ob wir uns im Grundwehrdienst befinden, in der uns die Flausen aus dem Kopf getrieben werden sollen. Will heißen: Kein Luxus. Aber warm und trocken ist es und das ist die Hauptsache. Natürlich gibt es andere Essende (außerdem holt anscheinend nacheinander das halbe Dorf das Mittagessen hier ab), so dass der Wissende über Herkunft und gemeinsame Bekannte, die Welt ist schließlich klein, reden kann. Die Suppe schmeckt durchaus gut. Nachtisch gibt’s leider nicht, man kann sich aber aus dem Kaffeesamowar für 50 Cent Kaffee zapfen und zwar einen ganzen Pott voll. Milch und Zucker gibt es auch. Wir verlassen getrocknet, gesättigt und wieder etwas schlauer die Feldküche Hoppenrade und machen uns auf den Weg nach Wustermark.
Diese Unternehmung stellt sich als gar nicht so einfach heraus. Mit dem Auto würden wir einfach einen Kilometer auf der Bundesstraße fahren, aber wir wollen ja im Regen wandern. Nicht an der Bundesstraße entlang zu gehen, bedeutet ein Gewirr von Einfamilienhäusern, die an Straßen mit poetischen Namen liegen, zu durchqueren. Als wir den Ort schon fast wieder verlassen haben, stellen wir fest, dass es Wustermark eigentlich gar nicht gibt, zumindest nicht als Ort im eigentlichen Sinne. Außer den tausenden Einfamilienhäusern gibt es noch eine Schule, einen Bahnhof, wenn man weg will (zum Glück) und ein Einkaufszentrum. Das meinten die Eheleute in der Feldküche also, als sie sagten, dass sie „hier ja alles haben“, und deshalb aus Berlin weggezogen seien. Man staunt nur offenen Mundes, was Menschen unter „alles“ verstehen. Es verbietet sich dem geneigten Betrachter aber Wertungen über verschiedene Lebensentwürfe anzustellen, da diese Wanderbeschreibung sonst zu schnell ins Philosophische abdriften würde.
Wir essen also im Stehen beim Bäcker neben den Supermarktkassen dreimal Mohnkuchen und einmal gedeckten Apfelkuchen (gut, aber zu süß!) als Nachtisch und brechen den Wandertag nach ca. 13 km ab, froh darüber, dass die Züge im nahen Bahnhof nach wenigen Minuten ein- und abfahren. Auf ein baldiges Neues.