Glück muss man haben, denken wir, als wir bei schönstem Sommerwetter früh starten und an das gestrige Wetter mit 35°C und nachfolgenden Gewittergüssen denken, die hier, wie wir am weggespülten Boden häufig sehen werden, besonders gewütet haben müssen. Dabei vergessen wir das alte Sprichwort, dass man den Tag nicht vor dem Abend loben soll. Oder auch: Das dicke Ende kommt immer zuletzt.
Wir finden den Einstieg in die neue Etappe und sehen das Schloss Lanke von hinten. Stehenbleiben können wir aber nicht, weil wir nicht ausgesaugt werden wollen: Hitze + Feuchtigkeit = Stechmücken. Also: Immer in Bewegung bleiben („sempre in giro“, wie der Italiener zu sagen pflegt). Wir laufen alsbald am Hellsee (18) entlang, der wunderbar still und mit völlig unbebauten Ufern neben uns liegt. Am Ende des Sees hofft der Schulfreund sehnsüchtig auf den ersten Kaffee des noch jungen Tages in der Hellmühle. Wenn es sich dabei um ein Restaurant handeln sollte, ist es als solches weder zu finden, noch gibt es einen Eingang oder auch nur ein Hinweisschild. Also ohne Kaffee weiter. Am Hellmühlenfließ wandern wir direkt neben dem plätschernden Bach, auf schmalem, naturbelassenem Weg.
Bevor wir das Fließ überqueren, wollen wir noch lesen, was vor uns Wandernde im Wanderbriefkasten hinterlassen haben, brechen den Versuch aber nach wenigen Lesezeilen wegen der Mücken ab. Wenig später erblicken wir den vorhergesagten Kirchturm von Biesenthal. Für die 6 km Wanderstrecke haben wir mehr als zwei Stunden benötigt, obwohl wir normal gelaufen sind. Jetzt gibt es im türkischen Bistro endlich den Kaffee, bzw., für den Schulfreund, die Kaffees. Kurz nach Biesenthal werden uns im Reschke („66-Seen-Wanderung“, S.103) die Varianten A bis D als Fortsetzung des Wegs nach Melchow zur freien Auswahl vorgestellt. Zur Variante D heißt es wörtlich: „Dies ist die bei vielen Wanderern beliebteste Variante“. Wir haben uns erst hinterher gefragt, ob Manfred Reschke wohl eine statistische Auswertung der ersten 2000 Begehungen der vier Wegmöglichkeiten durchgeführt hat oder ob er einfach nur seine eigene Vorliebe mitteilen wollte. Es stellt sich heraus, dass die „beliebteste Variante“ eher der Aussage eines Kellners im Fischrestaurant ähnelt, der den Gästen die leicht grünlich glitzernden und bereits etwas streng riechenden Forellen mit der Bemerkung anbietet:“ Die werden sehr gerne genommen“. Nur ist die Motivation des Kellners in diesem Falle klar, die Manfred Reschkes jedoch, uns komplett in die Irre zu führen, nicht! Die gesamte Beschreibung verliert alsbald ihre Stimmigkeit und wir gelangen zu einer wunderbaren, seit einem Jahr nicht gemähten Wildwiese mit mannshohem Gras, durch das wir uns wie
die Siedler im Wilden Westen vor dem Bau der Eisenbahn durchkämpfen müssen und deren Existenz wir seit der Ausrottung der Büffel nicht mehr erwartet haben. Positiv bleibt anzumerken, dass wir weder auf Indianer noch auf Bisonherden gestoßen sind. Den beschriebenen und in der Karte abgebildeten Buchspfuhl finden wir jedoch nicht. Nur unserem ausgeprägten Orientierungssinn, gepaart mit einem überdurchschnittlichen Überlebenswillen, ist es zu verdanken, dass wir den Weg zum Bahnhof Melchow doch noch finden. Eine oberflächliche Körperkontrolle ergibt wider Erwarten keinen Zeckenbefall. Eigentlich wollten wir bis Schönholz marschieren, für heute ist unser Bedarf an Naturerlebnissen aber überreichlich gedeckt. Die Regionalbahn bringt uns nach kurzer Wartezeit nach Bernau und von dort mit der S-Bahn nach Berlin.
Die heutige Etappe verspricht Wasser satt, sodass wir die in der Nähe von Wensickendorf liegenden Seen Lubowsee und Rahmer See einfach ignorieren können. Also marschieren wir bei ansprechendem Wanderwetter (kühl und trocken) durch offenes Gelände Richtung Nordosten. Leider ist von der vom Schulfreund ersehnten Kaffee-to-go-Ausgabestelle weit und breit nichts zu sehen: Eine Marktlücke. Wir erreichen den Stolzenhagener See (11) ohne Zwischenfälle und alsbald führt ein Wanderweg direkt am Ufer entlang. Die im Buch (Reschke: „66-Seen-Wanderung“) versprochene Gaststätte „Fischerstube“, in der eventuell auch ein Kaffee ausgeschenkt worden wäre, hat selbstverständlich geschlossen. An der Südostecke des Sees gibt es eine schöne Badeanstalt (eingezäunt), an deren Kiosk es im Sommer bestimmt einen Kaffee gibt. Eine kurze Landbrücke trennt uns vom Wandlitzsee (12). Einen Uferwanderweg sucht man hier vergebens, schöne und weniger schöne Villen grenzen direkt an den See. Auch in früheren Jahrzehnten war offenbar der Seezugang für die Arbeiter und Bauern eingeschränkt. Doch bevor wir den Bahnhof Wandlitzsee erreichen, gibt es noch eine Promenade mit Seezugang und Seeblick. Wir kommen an einem Einkaufszentrum mit Bäckerei vorbei, in dem es endlich den Kaffee gibt, der jetzt aber nicht mehr nötig wäre, da wir inzwischen auf Betriebstemperatur sind. Da es sich um eine Mischung aus Alimentari und Konditorei handelt, gibt es zum Kaffee ein Bruschetta, eine gute Mischung, die das Weiterwandeln erleichtert. Am Zwanzigerjahre-Bahnhof vorbei, der unter Denkmalschutz steht (in Berlin wäre das ein Hinweis für den baldigen Abriss), geht es zu den Drei Heiligen Pfühlen (13), die hier aber nur als ein See gerechnet werden. Der Duden sagt zur Mehrzahl von „Pfuhl“ zwar „Pfuhle“, aber als Eigennamen kann man das wohl gelten lassen. Das Gasthaus „Versunkene Glocke“ sieht so aus, als ob es seine letzte Saison schon hinter sich hat. Wer weiß? Um näher an die „Pfühle“ heranzukommen, weichen wir von dem markierten Weg ab (Reschke, S.97) und gehen durch den Wald einen schönen Pfad entlang, der gerade noch so erkennbar ist. Ein Zaun, genau wie im Buch der Bücher beschrieben, weist uns den Weg auf den markierten Wanderweg zurück, die Bank, an der man abbiegen soll, wird es in wenigen Jahren aber nicht mehr geben, sie löst sich langsam aber sicher in Wohlgefallen auf. Wir rätseln, woher der Regenbogensee (14) wohl seinen schönen Namen hat, es gibt aber keine auf den ersten Blick sinnvolle Erklärung. Ein Sumpfgelände, das den verlandeten früheren Seenverlauf anzeigt, führt uns zu einer hohen Moräne, hinter der der Liepnitzsee (15) liegt. Im Sommer auch wegen des sauberen Wassers ein ordentlich frequentierter Badesee (Campingplatz auf der Insel „Großer Werder“), genießen wir als einzige Wanderer den Blick über den See und auf den an einigen Stellen ergrünenden Wald am gegenüberliegenden Ufer. Hinter dem im Umbau befindlichen Fähranleger geht es zur Straße hinauf. Den Abstecher zum Seechen (16) ersparen wir uns; er schimmert zwischen Häusern hindurch, aber nicht jedes Ufergründstück macht neidisch. Das Rauschen der nahen Autobahn kündigt uns eine weniger angenehme Seite der Zivilisation an, die ansonsten durch (fast) überall verfügbaren Kaffee (s.o.) auch ihre angenehmen Seiten haben kann. Der Obersee (17), an dessen östlichem Ende mit Lanke unser heutiges Ziel liegt, ist jedenfalls aufgrund des Autobahnlärms als Urlaubsziel aus der Liste der 3000 schönsten Orte der Mark Brandenburg zu streichen. Eigentlich schade, denn es gibt, nachdem wir die Autobahnbrücke unterquert haben, einen schönen Uferwanderweg mit Badestellen. Ob die Hundebadestelle im Sommer die Menschen stört, ist momentan wegen nicht anwesender Vierbeiner nicht auszumachen. Wir kehren im Seeschloss Lanke ein und essen im schalldichten Wintergarten (1/2 Ente mit Klößen und Rotkohl, eine Portion, die nicht leicht zu bezwingen ist) sehr ordentlich und preiswert. Als Gratis-Zugabe können wir hören, wie ein gut proportioniertes junges Paar die Hochzeitsfeiermodalitäten mit dem hauseigenen Organisator aushandelt. Auf die Frage, ob die 25 geplanten Euro pro Person für Getränke ausreichen würden, gibt es die prompte Reaktion: „Ich kenne ja nicht Ihre Trinkgewohnheiten“. Nach der äußeren, vorurteilsbefrachteten Inaugenscheinnahme durch den Protokollanten, erscheint der Preis als um mehrere Zehnerstellen zu knapp kalkuliert. Mal eine etwas andere Art der Essensunterhaltung als immer nur André Rieu… Zweihundert Meter vom Restaurant entfernt befindet sich der örtliche Knotenpunkt für Buslinien aller Art. Als wir glücklich in einen sogleich ankommenden Bus, der uns ins 9 km entfernte Bernau bringen soll, einstiegen, haben wir die himmlische Eingebung, den Fahrer nach der Fahrdauer zu fragen, was er ehrlich mit „ca. eineinhalb Stunden“ beantwortet. Wir wissen nicht, ob der Bus über Warschau fährt, auf jeden Fall verlassen wir das Gefährt und warten lieber auf einen anderen Bus, der nur 20 Minuten zum S-Bahnhof Bernau braucht. Von dort sind wir mit der S-Bahn in gut 30 Minuten in der Stadtmitte.
Langsam wächst unsere kleine Wandertruppe zu einem respektablen Seniorenfreizeitaktiv heran. Zu viert starten wir in Hennigsdorf, später stoßen zwei Halbtagskräfte hinzu. Mal sehen, ob wir gegen Ende der Berlin-Umrundung einen Sonderzug bei der Reichsbahn bestellen müssen.
Bei sonnigstem Frühlingswetter machen wir uns gegen viertel zehn auf den Weg und gehen planerfüllend an der Hennigsdorfer Kirche vorbei. Die vom Wissenden versprochene Gedenktafel betreffend Martin Luther und Katharina von Bora wird nicht entdeckt. Vielleicht befindet sie sich im Innern der Kirche, eventuell ist sie in den Schmelzöfen der Metalldiebemafia verschollen. An der Hauptstraße entlang geht es über die Havel und dann auf dem Radweg nach Norden, östlich der Altarme der Havel, die schon ahnen lassen, welche Art von Natur wir heute erleben werden. Wir nehmen den punktierten Kartenweg, weil wir vorläufig, unsere Ausdauer betreffend, frisch und optimistisch sind und einen halben Kilometer „Umweg“ als vernachlässigbar einstufen. Einige Stunden später hätten wir wohl anders entschieden…
Wir überqueren Eisenbahn und Autobahn, alles sehr akkurat im „Reschke“ beschrieben, obgleich wir einen abkürzenden Wiesenweg (S. 87, links unten) nicht entdecken können, wohl aber die Gärten der Schillerpromenade. Ein eingeritztes Hakenkreuz auf einem Briefkasten scheint den Hausbesitzer nicht zu stören, vielleicht soll es auch den rechten Weg weisen.
Wir nähern uns Birkenwerder, dem Halbetappenziel mit Verpflegungsstation, haben vorher aber noch, nach dem Motto „Ohne Fleiß kein’ Preis“, zwei kleine Prüfungen zu überstehen. Es heißt bei Reschke (S.87, re., Mitte), dass wir „…schräg nach links auf einem weitläufigen Wiesenweg weiter in Richtung eines Hauses…“ gehen mögen, was wir auch, vom blauen Punkt geleitet, tun. Leider versperrt vor dem besungenen Haus eine Pferdekoppel, mit stromdurchflossenen Drähten gegen Missbrauch gesichert, den gewünschten Weg. Weil uns rechts am Zaun entlang ein Schild mit der freundlichen Aufschrift „Durchgang verboten – Privatbesitz“ nahelegt, uns nicht strafbar zu machen, versuchen wir unser Glück in der linken Richtung. Immer am Zaun entlang, links Moor, rechts Angst vor Stromschlägen, müssen wir nach 200 harten Metern doch die Vergeblichkeit unseres Tuns erkennen, als der nicht mehr vorhandene Weg in einer Sackgasse (Zaun grenzt an Zaun) endet. Also den geordneten Rückzug antreten, den ursprünglichen Weg nehmen und die Erkenntnis gewinnen, dass auch neue Wanderbücher nach kurzer Zeit vom Lauf der Welt überholt werden können.
Als wir endlich an der Briese ankommen, warnt uns eine offizielle Hinweistafel, dass der Wanderweg wegen Hochwassers gesperrt sei. Da wir das nach fünfwöchiger Trockenheit für einen Witz halten, machen wir uns auf den Weg über einen wunderschönen Bohlenweg, der uns heute erstmals durch urwaldähnliches Gelände führt. Nach einigen hundert Metern stellt sich heraus, dass die Birkenwerdersche Stadtverwaltung doch nicht soviel Humor wie gedacht besitzt, sondern der Hinweis blutiger Ernst war. Aber jetzt kann uns auch eine vier Meter lange und fünf bis zehn Zentimeter tiefe Überschwemmung nicht zur Umkehr bewegen, weil der Mittagshunger doch die Angst vor nassen Füßen bei weitem übertrifft.
Nachdem wir die Bundesstraße 96 in Birkenwerder überquert haben, geht der Weg genauso schön weiter und führt uns zum Mönchsee(8) und einige hundert Meter weiter zum Boddensee (9). Fast alle Plätze sind im Gasthaus am Boddensee um kurz nach zwölf an einem Wochentag besetzt. Deutschlands Rentnern kann es so schlecht nicht gehen, vor allem, wenn man bedenkt, dass das Hefeweizen stolze 4,90 Euro kostet. Dafür gibt es die Mittagsgerichte („zwei zum Preis von einem“) ermäßigt. Vielleicht ist das der Grund für die überraschende Nachfrage, denn die Qualität des Essens ist zwar nicht schlecht, aber auch nicht überragend (Zwei minus/Drei plus). Nach ernsthaften Überlegungen, es damit bewenden zu lassen und den Arbeitstag mit einer zünftigen Kartenspielrunde ausklingen zu lassen, entscheiden wir uns für die Pflicht und machen uns auf den Weg zur zweiten Halbzeit. Es geht jetzt kilometerlang durch das Landschaftsschutzgebiet „Naturpark Barnim“, immer an der Briese entlang Richtung Nordosten, durch wahre Zauberwälder. Manchmal gibt es Plankenwege durch Sumpfgelände, meist ist der Weg aber naturbelassen. Teilweise ist die Briese durch fleißige Biberarbeit zu richtigen Teichen aufgestaut, so dass eine Art Auwald entstanden ist. Wir kommen noch am kleinen Briesesee(10) vorbei und müssen nur zwei Mal Straßen überqueren. An der zweiten, der Summter Chaussee, merken wir doch, dass wir nicht jede Woche 25 km marschieren. Die Beine werden schwer und der Kopf wird leer. Bis zum Bahnhof Wensickendorf ist die Entfernung aber überschaubar. Das Straßendorf besteht aus vielen alten Bauernhäusern, unter deren Rauputz manch Kleinod versteckt sein mag. Wir erreichen das sich selbst und den ortsansässigen Wandalen überlassene (ehemalige) Bahnhofsgebäude rechtzeitig, um den modernen Triebwagen der NEB (Niederbarnimer Eisenbahn), der Heidekrautbahn, zu besteigen, der uns in zwanzig Minuten nach Karow (Anschluss an die S-Bahn vom selben Bahnsteig) und von dort zurück in die Stadt bringt.
Wettertechnisch können wir uns nicht beklagen: Nachdem wir auf den ersten drei Etappen Sonnenschein, Regen und Nebel hautnah erleben durften, ist diesmal der Winter mit Schnee und allem Drum und Dran unser treuer Begleiter. Deshalb planen wir auch nur eine Halbetappe, nämlich die ca. 8-10 km von Schönwalde nach Hennigsdorf. Es beginnt auch etwas später, um gemäßigte 10.30 Uhr, an der Haltestelle Falkenhagener Weg, an der wir vor einigen Wochen den Ort im Dunkel verlassen hatten. Die Route ist einfach, wir gehen an Einfamilienhäusern vorbei und erreichen nach wenigen Minuten die Kirche in Schönwalde, die laut Wetterfahne 1737 errichtet wurde. Die Wagner-Orgel, die sich in der Kirche befindet, hat übrigens nichts mit Richard Wagner zu tun, sondern ist nach dem Orgelbauer Joachim Wagner benannt. Es geht weiter durch die verschneite Landschaft immer geradeaus nach Norden, bis wir die Richtung nach Osten ändern müssen. Die Streckenbeschreibung in der „Reschke-Bibel“ ist präzise und einfach nachzuvollziehen. Wir laufen durch einen Wald namens Mittelbruch, überqueren ein Gewässer mit dem interessanten Namen Risiakengraben und marschieren weiter durch die Bötzower Unterheide. Wir kommen am ehemaligen Übungsgelände der Roten Armee vorbei; die Ruinen, die wohl nur für militärische Übungen herhalten mussten, scheinen aber nicht aus roter, sondern eher aus brauner Zeit zu stammen.
Was heißt wohl „YEPHOI OPCK!“?
Nach der Überquerung des Muhrgrabens (ein See ist uns auf der 66-Seen-Route auch diesmal nicht vergönnt) führt ein schnurgerader Weg genau Richtung Osten auf Hennigsdorf zu. Wir merken jetzt auch den mäßigen Ostwind, der bei -3 Grad durchaus unangenehm zu spüren ist. An der Tatsache, dass uns sowohl junge Mütter mit Kinderwagen und Hund als auch Skilangläufer begegnen, erkennen wir, dass wir unser Ziel demnächst erreicht haben. Wir laufen am Friedhof vorbei, der so groß ist, dass er unmöglich nur Hennigsdorfer aufgenommen haben kann. Bevor wir den Ort erreichen, können wir noch einen Postmeilenstein bewundern, genauer gesagt einen Viertelmeilenstein. Die Informationstafel erklärt uns ehrlicherweise, dass es sich um eine Rekonstruktion handelt. Diese sei am Originalplatz aufgestellt worden, was der Wissende, seines Zeichens einer der Experten für Poststraßen/Meilensteine, zumindest in der nördlichen Hemisphäre, bezweifelt, da er alle ehemaligen Poststraßen kennt und hier wohl keine vorbeikam. Ich ahne, wie die Sache ausgehen könnte: Die Gemeinde wird vielleicht über kurz oder lang ein korrigiertes Schild aufstellen…
Wir gehen durch die Fußgängerzone mit mehr oder weniger schmucken Nachwendehäusern und Einkaufspassagen und suchen nach einer Verpflegungsmöglichkeit jenseits von Thai-Imbiss, Dönerbude und Mexikaner, der eher nach Rotlichtviertel als nach Essen aussieht. Weiter bis zum Bahnhof, aber auch dort Fehlanzeige! Eine ältere Eingeborene sieht offenbar unsere verzweifelten Blicke und fragt uns nach dem Begehren. Sie erklärt uns in weniger als sieben Minuten den Weg zu einem italienischen Restaurant, an dem wir aber nie ankommen, weil der Schulfreund nach zweihundert Metern das ihm vertraute „Fisch-Eck“ erkennt. Er muss uns nicht lange überreden und wir bereuen nichts. Die Mischung aus Fischladen und Restaurant ist stimmig und authentisch, der Fisch ist preiswert, äußerst frisch und zwar einfach aber ziemlich perfekt zubereitet. Ein Geheimtipp für alle Hennigsdorf-Urlauber, die unterhalb des Gourmet-Niveaus ordentlich essen gehen wollen. Mit der S-Bahn, die überraschenderweise trotz Schnees, leichten Ostwindes und starker Bewölkung pünktlich fährt, sind wir in einer halben Stunde in Berlin-Mitte zurück.
Auf dem Bahnhof Wustermark geht`s mit leichter Verspätung weiter: Die Bahn hat auf 1:08 Stunden Fahrzeit locker 20 Minuten Verspätung kreiert. Kein Regen, dafür zur Abwechslung Nebel. Man sieht nicht viel, aber da wir den Ort, den es als solchen eigentlich gar nicht gibt, schon beim letzten Mal nicht erkundet haben, lassen wir ihn ohne große Trauer hinter uns und erreichen den Wanderweg mit dem blauen Punkt kurz vor der Eisenbahnunterführung.
Nach der B5-Unterquerung sind wir wieder am Kanal, manchmal ist der Weg nicht ganz eben und mit Gras überwachsen, aber wir haben aus der Erfahrung der letzten Etappe gelernt und weitgehend wasserdichte Schuhe angezogen. Wir finden den Weg wie in der „Bibel“ (Manfred Reschke: „66-Seen-Wanderung“) beschrieben und sind, nachdem wir das versteckte Erinnerungsschild der „Brücke der Jugend“ von 1952 entdeckt haben, nach zwei Stunden in Brieselang. Es ist zwar eigentlich noch nicht Mittagszeit, aber wer weiß, ob wir noch eine geöffnete Gaststätte zu erwarten haben. Wir weichen also von der Hauptstrecke ab und gehen Richtung Bahnhof, um im Gasthaus Brieselang Rouladen, bzw. Leberkäs zu essen. Keine Feinschmeckerkost, aber wir sind ja Wanderer und keine Gourmetrestaurant-Kritiker. Der Weitermarsch mit vollem Magen fällt erfahrungsgemäß schwer. Wir gehen nicht zurück zur Hauptroute sondern wählen Variante B, was den Vorteil hat, dass wir auch auf dieser Etappe wenigstens einen echten See, den Nymphensee, zu sehen bekommen, bzw. das, was davon aus den Nebelschwaden auftaucht.
Der Nymphensee, der erst 1950 entstand, als viel Sand für Eisenbahn- (andere Quellen sprechen von Autobahn-) Böschungen benötigt wurde, liegt still da, man hört aus dem Nebel rangierende Eisenbahnen und hat kein Bedürfnis, sich bei 4 Grad Wassertemperatur zu erfrischen, ahnt aber, dass der See im Sommer ein schöner Ort ist, um seine Freizeit zu verbringen. Der Weg geht gut ausgeschildert und gut beschrieben am Rand der unendlichen Einfamilienhaus-Siedlung namens Brieselang wieder dem Havelkanal entgegen, den wir bei Alt-Brieselang, das sind eine handvoll Häuser, erreichen.
Es ist jetzt fast 14 Uhr und wir haben laut Wegweiser noch 13,5 km vor uns, mehr als beim flüchtigen Blick auf die Karte erwartet. Bei 5 km in der Stunde liegen noch fast 3 Stunden Fußmarsch vor uns, es dämmert aber bereits ab 15.50 Uhr. Das war schlecht kalkuliert, denn im Dunkeln wollen wir nur ungern Bekanntschaft mit Wildschweinen schließen, deren Suhlen wir ständig am Wegesrand erkennen. Also schnell weiter, noch ist alles gut zu erkennen und der Weg ist gut beschrieben. Es geht am Rand der Büttenheide entlang und durch die Wansdorfer Wiesen wieder zum Kanal. Leider können wir nicht jede Beschreibung aus dem Reschke-Buch nachvollziehen: “Am Waldende geht es weiter geradeaus über die weite freie Fläche auf die in der Ferne sichtbare Bahnbrücke zu,…“ (S. 79). Wir sehen keine freie Fläche und noch weniger eine Bahnbrücke, sondern nur den nächsten Strommast in 80 m Entfernung, finden den Weg aber trotzdem. Eine einsame Reiterin taucht auf riesigem Pferd aus den Nebelschwaden auf. Romantisches Bild. Im kurzen Gespräch erklärt sie uns, dass sie das Recht hat, die Wege mit den Pferdehufen umzupflügen, weil sie ja Steuern zahlt. Nun ja… Wir verlassen den Kanal und gehen durch die Schönwalder Heide, die keine Heide, sondern ein Waldgebiet ist (in Brandenburg gilt: Heide = Wald), auf den gleichnamigen Ort zu. Ohne die nette Skizze auf Seite 81 der „66- Seen-Wanderung“ würden wir wahrscheinlich die Nacht im Forst verbracht haben, so aber erspähen wir in fortgeschrittener Bürgerlicher Dämmerung die erste Laterne Schönwaldes und erreichen kurz darauf die Bushaltestelle (671), von der wir nach Spandau transferiert werden. Im Flutlicht spielen Eingeborene Boule (jeden Sonntag nach dem Gottesdienst, Gäste willkommen), von den gegen drei Grad tendierenden Temperaturen nicht abgeschreckt. Wir wissen nicht, ob sie sich innerlich mit anregenden Getränken aufgewärmt haben und können es auch nicht anhand ihrer Wurfsicherheit nachprüfen, da uns der Bus in 33 Minuten zum Spandauer Hauptbahnhof bringt.
Die Wettervorhersage verbreitet nicht das, was man Optimismus nennen könnte, wenn man Pessimist wäre. Aber es kann ja noch werden, und so treffen wir mit dem Regionalzug zur festgelegten Zeit in Marquardt ein. Der leichte Nieselregen, der uns empfängt, weiß nicht, ob er nur feuchte Luft ist oder einen doch zum Kapuzeaufsetzen oder gar Schirmaufspannen nötigen will. Wir erkennen den blauen Punkt wieder und gehen durch den Ort nach Norden, ohne schrillen Schrei. Es ist ruhig hier, kaum ein Auto, kaum Menschen – aber bei Regen tanzt man ja auch nicht auf der Straße. Als wir hinter dem Ort die Bundesstraße 273 unterqueren sehen wir Arbeiter der Straßenbehörde ihrer verantwortungsvollen Tätigkeit nachgehen. Sie versetzen ein Verkehrsschild, das am grünen Tisch eine unnütze Lage zugeschrieben bekam, um zwei Meter nach hinten, damit es seinen Sinn erfüllt. Der Wissende beginnt mit den Arbeitern eine Diskussion über die Verankerung des Schildes, dessen Rohr nämlich überraschenderweise nicht in Beton eingegossen, sondern einfach in den Sand gebohrt wird. „Dit hält“, sagen die Arbeiter und wir müssen es ihnen glauben. Wenn wir das nächste Mal an dieser Stelle vorbeikommen, werden wir kontrollieren. Wir überqueren die Straße und halten uns am nächsten Weg, einer alten Kastanienallee, rechts und gehen bis zu den Bahngeleisen. An diesen entlang wieder nach Norden, am ehemaligen Bahnhof Satzkorn („Satzkorn – Priort – Marquardt“: Meine Lieblingsnamen, als ich vor Jahrzehnten als Student bei der Ausbildung zum Fahrkartenverkäufer bei der Reichsbahn im damaligen West-Berlin die Spinne auswendig lernen musste) vorbei, der noch ordentlich erhalten ist, obwohl er leer steht. Wer es gerne etwas gruselig mag, könnte sich bei der Immobilientochter der Bahn um dieses Schnäppchen bewerben. Es wird wahrscheinlich wenige Mitbieter geben.
Wir halten uns links um die Autobahn A10 zu überqueren und nehmen den Stau der Lastwagen mit Schadenfreude zur Kenntnis, wie jeder, der nicht selber im Stau steht. Der Weg ist nur noch ein Pfad im Gras, weshalb es nicht nur von oben, sondern leider auch an den Füßen ungemütlich nass wird. Die folgende Wegbeschreibung im Buch, in dem von Pappeln, Obstplantagen, linken Bögen und vielem mehr die Rede ist, können wir nicht nachvollziehen, stehen aber, genau wie beschrieben, „plötzlich und überraschend auf dem Damm des Havelkanals, der vorher nicht zu sehen war.“ Bei schönem oder mindestens hinreichendem Wetter wären die folgenden 1,5 km direkt am Kanal entlang sicher ein Genuss, so aber tröpfeln wir wie der Regen vorwärts, von schlechter Stimmung kann man aber natürlich nicht reden. Bei Buchow-Karpzow überqueren wir den Kanal und marschieren auf der linken Seite weiter. Leider ist der Weg immer weniger als Weg, geschweige denn als gepflegter Wanderweg zu erkennen. Das Gras ist kniehoch, und da es nass ist, sind auch wir nass. Die Natur holt sich auf bewundernswerte Weise zurück, was ihr der Mensch, und sei es auch in bester Absicht, genommen hat. Hier kann man exemplarisch studieren, wie es auf der Erde drei Jahre, nachdem der Mensch einstmals von ihr verschwunden sein wird, aussehen könnte.
Da der Weg nicht mehr zu erkennen ist, biegen wir, wie sich alsbald herausstellen soll, falsch ab, und machen doch alles richtig: Ohne zu frühes Abbiegen wären wir nämlich in Wustermark, und nicht, wie uns der Wissende anhand der ihm bekannten Kirche erklärt, in Hoppenrade aufgeschlagen. Und wenn wir nicht in Hoppenrade gewesen wären, hätten wir auch nie die „Feldküche Hoppenrade“ von Detlef Baderke kennen gelernt.
Unter Feldküche versteht der Nicht-Wehrdienst-geleistet-Habende eine Gulaschkanone, die eventuell von einem Zelt gegen den Regen geschützt wird. Die Feldküche Hoppenrade ist eine Gulaschkanone, die durch ein Zelt gegen den Regen geschützt wird! Aber es gibt keinen Gulasch, sondern Erbsensuppe und zwar mit Knacker, mit Wiener oder mit Bockwurst. Oder ohne alles, für Vegetarier. Wir betreten den Raum hinter dem Zelt und auch hier sieht alles so aus, als ob wir uns im Grundwehrdienst befinden, in der uns die Flausen aus dem Kopf getrieben werden sollen. Will heißen: Kein Luxus. Aber warm und trocken ist es und das ist die Hauptsache. Natürlich gibt es andere Essende (außerdem holt anscheinend nacheinander das halbe Dorf das Mittagessen hier ab), so dass der Wissende über Herkunft und gemeinsame Bekannte, die Welt ist schließlich klein, reden kann. Die Suppe schmeckt durchaus gut. Nachtisch gibt’s leider nicht, man kann sich aber aus dem Kaffeesamowar für 50 Cent Kaffee zapfen und zwar einen ganzen Pott voll. Milch und Zucker gibt es auch. Wir verlassen getrocknet, gesättigt und wieder etwas schlauer die Feldküche Hoppenrade und machen uns auf den Weg nach Wustermark.
Diese Unternehmung stellt sich als gar nicht so einfach heraus. Mit dem Auto würden wir einfach einen Kilometer auf der Bundesstraße fahren, aber wir wollen ja im Regen wandern. Nicht an der Bundesstraße entlang zu gehen, bedeutet ein Gewirr von Einfamilienhäusern, die an Straßen mit poetischen Namen liegen, zu durchqueren. Als wir den Ort schon fast wieder verlassen haben, stellen wir fest, dass es Wustermark eigentlich gar nicht gibt, zumindest nicht als Ort im eigentlichen Sinne. Außer den tausenden Einfamilienhäusern gibt es noch eine Schule, einen Bahnhof, wenn man weg will (zum Glück) und ein Einkaufszentrum. Das meinten die Eheleute in der Feldküche also, als sie sagten, dass sie „hier ja alles haben“, und deshalb aus Berlin weggezogen seien. Man staunt nur offenen Mundes, was Menschen unter „alles“ verstehen. Es verbietet sich dem geneigten Betrachter aber Wertungen über verschiedene Lebensentwürfe anzustellen, da diese Wanderbeschreibung sonst zu schnell ins Philosophische abdriften würde.
Wir essen also im Stehen beim Bäcker neben den Supermarktkassen dreimal Mohnkuchen und einmal gedeckten Apfelkuchen (gut, aber zu süß!) als Nachtisch und brechen den Wandertag nach ca. 13 km ab, froh darüber, dass die Züge im nahen Bahnhof nach wenigen Minuten ein- und abfahren. Auf ein baldiges Neues.
Tolle Idee, dachte ich mir vor gut und gerne zwei Jahren, als ich von der Existenz des 66-Seen-Wanderweges rund um Berlin hörte. Wenn ich die Mühen der täglichen Für-Geld-Arbeit hinter mir gelassen habe, nehme ich das sofort in Angriff. Also flugs das Buch gekauft und keine eineinhalb Jahre später starten wir tatsächlich zur erste Etappe. Die Mitwanderer: Der Wissende, der sozusagen alles zum Thema Brandenburg kennt, was Fontane auch kannte und was dieser wegen der Gnade der frühen Geburt noch nicht kennen konnte und der Schul-freund, der den Wissenden auch seit frühester Kindheit kennt.
Wir haben vor, uns an den Streckenverlauf des Buchs von Manfred Reschke zu halten, treffen uns also an der Nordseite des Potsdamer Hauptbahnhofs. Selbstverständlich sind wir drei Wanderer pünktlich um 8.30 Uhr zur Stelle, so dass wir uns ohne festgelegte Marschordnung zügig in Bewegung setzen. Wir gehen vorschriftsmäßig zur Langen Brücke und machen nicht den Abstecher zur Freundschaftsinsel, bewundern aber kurz die Plastik „Schönheit des Menschen in der Natur“ von Margret Midell aus dem Jahre 1974. Überraschenderweise kennt der Wissende die Bildhauerin nicht und hat demnach auch
nicht mit ihr Tee getrunken.
Unerträglicher Straßenlärm begleitet uns am fast fertig gestellten alten, neuen Stadtschloss, aber man darf erwarten, dass die Bauherrn, die ja als Parlamentsabgeordnete auch zukünftige Nutzer sein werden, beim Spendieren von Lärmschutzfenstern großzügiger als bei den Anwohnern des Schönefelder Flughafens waren. Der Wissende verblüfft uns mit der Aussage, dass er kurz nach dem Beschluss über den Wiederaufbau des Schlosses dem Potsdamer Denkmalpfleger Kalesse Original-Bauzeichnungen des Schlosses übergeben konnte, die sich jahrelang (aus der Hinterlassenschaft eines früheren Kaiser-Wilhelm II-Mitarbeiters) auf seinem Dachboden befanden.
Nachdem wir den Marstall links liegen gelassen haben, wird es wie auf Knopfdruck ruhig. Wir stehen vor dem Geburtshaus von Wilhelm von Humboldt und des Kaisers…… Der Neue Markt liegt in beschaulicher Ruhe da. Ein mit alt wirkenden Säulen versehener Neubau ergänzt die Bebauung. Über Architekturgeschmack sollte man nicht streiten, der kleinste gemeinsame Nenner besteht darin, dass ein Haus immer noch besser als eine Baulücke ist.
Eine Straße weiter erreichen wir planmäßig den wiedererrichteten Stadtkanal an der Yorckstraße. Er wird gerade für ein Kanurennen gewässert. 200m x 10m x 1m = 2000 Kubikmeter. Was das kostet…An der Dortustraße hören wir vom Glockenturm, der in der Nähe der ehemaligen Garnisonkirche errichtet wurde, ein Musikstück. Da dies laut Buch alle 15 Minuten der Fall ist, liegt die Wahrscheinlichkeit bei knapp 100%. Die noch fast verwaiste Brandenburger Straße gehen wir bis zum Brandenburger Tor entlang. Hier beginnt endlich der eigentliche Wanderweg.
Der Wissende erzählt uns noch, wie an dieser Stelle im Februar 1990 die Klement-Gottwald-Straße in Brandenburger Straße zurückbenannt wurde, obwohl es das Land Brandenburg noch gar nicht gab. Das Orchester der Volkspolizei spielte die Melodie zum Brandenburglied „Steige hoch, du roter Adler…“. Der Dirigent übergab dem anwesenden Komponisten Gustav Büchsenschütz den Taktstock, den dieser gerührt übernahm und die Hymne pannenfrei zum guten Ende führte.
Wir marschieren nach Norden um brav den schon sichtbaren Obelisken anzusteuern. Anschließend durchqueren wir wenige hundert Meter den Park um nach der zentralen Fontäne auf Schloss Sanssouci zuzuhalten. Wir kosten von den fast reifen Weintrauben und der Wissende weiß auch nicht (wie niemand, wie er weiß), warum am Schloss „Sans, Souci“, also mit Komma, geschrieben steht. Wer eine profunde Erklärung kennt, soll sich beim Wissenden melden. Meiner unmaßgeblichen Meinung nach handelt es sich um einen Fehler ahnungsloser Schildermaler, die heute millionenfach „Lucy’s Waschshop“ mit falschem Apostroph schreiben (was resignierende Experten in der Rechtschreibreform als richtig anerkennen mussten).
Wie beschrieben gehen wir links am Schlösschen vorbei, sehen die Mühle und einen aus der Zeit gefallenen Flötenspieler, der angeblich den Touristen Freude macht. Uns nicht, und deshalb folgen wir der blauen Markierung und sehen links, fast hinter Büschen und Bäumen verborgen, den Bornstedter See liegen. Es gibt keinen Uferweg, aber immerhin, die Nr.1 von 66 ist erreicht. Man ist ja bescheiden. Wir erklimmen den Ruinenberg.
Das Säulenensemble wird gerade restauriert und damit man nicht zu nah an die neuen Ruinenteile herankommt, wird die Baustelle ordentlich mit Natodraht gesichert. Wir finden den Weg entsprechend der Beschreibung meist problemlos, checken manchmal die wahrscheinliche Himmelsrichtung, verlassen uns auf’s Gefühl und finden dann relativ bald wieder den blauen Punkt.
Wir durchqueren die russische Kolonie Alexandrowka auf dem Hauptweg. Die Häuser sind in riesige, der Allgemeinheit gehörende Obstgärten eingebettet, deren Früchte allerdings mangels Gärtnern nicht geerntet werden. Warum nicht einen „Tag des Vitamins“ veranstalten, an dem die Potsdamer zum Ernten und kostenlosen Mitnehmen kommen können? Vor einem Haus steht eine Hinweistafel mit zwei Sätzen und dem Verweis auf einen QR-Code. Der Schulfreund hat zwar sein Smartphone dabei, ist aber über die technischen Wunder seines Telefons erhaben und kann den Code nicht knacken. Gehen wir eben unwissend weiter, obwohl uns der Wissende natürlich den einen oder anderen Informationshappen hinwirft.
Weil die Zeit gnadenlos voranschreitet und wir die folgenden Highlights mehr oder weniger kennen, entscheiden wir uns den 2-km-Schlenker zu Cecilienhof, Meierei und Marmorpalais auszulassen. Das hat leider zur Folge, dass wir nur eine 65-Seen-Wanderung machen werden, weil wir den Heiligen See nicht zu sehen bekommen.
Zum Belvedere gehen wir aber doch hinauf, obwohl wir uns die Besteigung des Bauwerks sparen (ist donnerstags wohl auch nicht geöffnet). Statt dessen haben wir Glück, dass uns ein freundlicher Mitarbeiter den Pomona-Tempel öffnet und uns hineinlässt, was auch für den Wissenden eine neue Erfahrung ist.
Um die Aussicht, die zu Schinkels Zeiten genossen werden konnte, wieder herzustellen, müssten einige Festmeter Holz aus der Sichtachse geschlagen werden, was wahrscheinlich auf den erbitterten Widerstand bestimmter Interessengruppen führen dürfte. Man kann eben nicht alles haben. Auf dem Abstieg begegnen wir zwei jungen Frauen, die versuchen, ihren acht Monate alten Dobermann mit Hilfe ständiger Gaben von Leckerlis zu erziehen, was durchaus Erfolg hat. Vielleicht hat aber auch die Kurzleine dabei geholfen, uns nicht zu verspeisen. Immerhin, der gute Vorsatz war deutlich zu spüren.
Den Jungfernsee lassen wir beim Weitermarsch rechts liegen, wir ahnen ihn zumindest hinter der Nauener Vorstadt. Jetzt geht es immer geradeaus Richtung Nedlitz auf den Weißen See zu, an dessen seichtem Ufer wir auf das in der Buchkarte angegebene Messer- und Gabelzeichen setzen, um die arg geschrumpften Kohlenhydratspeicher wieder aufzufüllen. Leider erweisen sich in Bezug auf die Gastronomie auch recht neue Verzeichnisse als schnell überholt. Das Restaurant existiert nicht mehr, und wir diskutieren, ob wir es noch schaffen, dem Hungertod zu entkommen, wenn wir bis zur nächsten eingezeichneten Verpflegungsstation, dem Anglerheim an der Kanalbrücke, gehen werden. Immerhin ist der Blick auf den Weißen See schon so, wie man sich das auf einer Seen-Wanderung vorstellt: Ein leichter Wind kräuselt das Wasser, ein Dampfer fährt vorüber, kein Mensch weit und breit zu sehen, alles perfekt…
Schön wäre es, wenn man jetzt einfach die letzten vier, fünf Kilometer am Ufer des Sacrow-Paretzer-Kanals entlanglaufen könnte. Schon im Buch wird aber gewarnt, dass der Weg eigentlich nicht zu finden ist, bzw., gar nicht existiert, was auch stimmt. Wir versuchen es an einer Baustelle trotzig querwaldein, geben nach hundert Metern aber auf und suchen den Eingang zur beschriebenen Laubenkolonie.
Dort treffen wir auf zwei Männer, die machen, was alle Lauben- oder Datschenbesitzer ständig machen: Irgendwelche Sachen auf Schubkarren transportieren. In diesem Falle scheint es frische Erde zu sein, die vor dem Tor der Kolonie abgeladen wurde. Da der Wissende die beiden sofort in ein Gespräch verwickelt, erfahren wir, dass der in einiger Entfernung zu sehende riesige Gutshof die Pferdestallanlage und Trainingsstätte der Olympischen Spiele von 1936 gewesen ist. Jetzt wartet die Anlage etwas traurig auf den angeblich schon bereitstehenden Investor. In der Kolonie wird die eine oder andere über den Gartenzaun hängende Pflaume gepflückt und verspeist, um den schlimmsten Hunger zu stillen.
Wir setzen die Wanderung wie beschrieben fort, orientieren uns aber mehr am blauen Punkt als am Buchtext, der hier etwas durcheinander wirkt. Es kann aber auch sein, dass die Dehydrierung unsere Lesefähigkeit massiv beeinträchtigt hat. Den Fahrlander See ahnen wir nur, kommen nach einigen Kilometern aber wieder zum Sacrow-Paretzer-Kanal. Kurz vorher gehen wir nach rechts, weil ein Hinweisschild die Verpflegungsstelle ankündigt. Der Schließtag ist überraschenderweise erst übermorgen. Da außerdem ganzjährig geöffnet zu sein scheint, hoffen wir auf baldige Nahrungsaufnahme.
Wir sind die einzigen Gäste im Garten vor dem Restaurant, das baulich eher an eine im Laufe der Jahrzehnte immer weiter ausgebaute Laube erinnert. Die Speisen sind preiswert und dementsprechend in der Qualität. „Wenigstens nicht verhungert“, ist der Nenner, auf den wir uns einigen können. Am alkoholfreien Bier aus der Flasche ist nichts auszusetzen, am Cappuccino merkt man aber, was eine gute Kaffeemaschine wert wäre.
Ein Mittagsschlaf wäre jetzt angebracht, wir müssen aber noch ein Stück zurück durch die Laubenkolonie und dann nach rechts, wo über den Kanal eine neue Brücke gebaut wird. Zwei einheimische Parteien (ein alter Mann mit Hund und ein mittelaltes Ehepaar) streiten sich, nachdem wir sie nach dem besten Weg gefragt haben. Wir entscheiden uns über die abgesperrte Brückenbaustelle zu gehen (wie das Ehepaar sagte) und liegen damit richtig. Nach dreihundert Metern können wir den Kanal an der Eisenbahnbrücke überqueren. Ein paar hundert Meter auf der Nordseite der Wasserstraße entlang, dann nach rechts und wir befinden uns im Park von Schloss Marquardt am Schlänitzsee. Zum Bahnhof Marquardt, der eigentlich nur ein Haltepunkt ist, fragen wir uns durch. Die Nachwendeanlage wirkt in ihrer Trostlosigkeit weniger deprimierend als interessant und man fragt sich unwillkürlich, ob Graffitischmierer (von –kunst keine Spur) und Wartehäuschensitzbankzerstörer die gleiche Klientel ist. Immerhin: Der Zug kommt pünktlich und ist relativ sauber, auf den Fahrkartenerwerb müssen wir aber leider verzichten, da in Marquardt natürlich kein Automat stand und jetzt im Zug von einem „Schaffner“ weit und breit nichts zu sehen ist. Es gibt Schlimmeres und deshalb freuen wir uns schon auf die Fortsetzung der Wanderung.